Gewalthandlungen, Reaktionen und Hilfsangebote sowie Selbstreflektion der Mediatoren in Theorie und Praxis.

Verfasst von Ernst Schnell, MBA MSc MSc; Mattighofen, 07.12.2020

  1. Familienmediation in der Praxis

1.1    Hilft Familienmediation

Wie oft wird eine Vereinbarung erreicht?

 – Vollständige Übereinkünfte 40-60%

 – Teilvereinbarungen 10-20%

 – folglich für 50-80% zumindest Teilerfolge

Im Vergleich zu Gericht mittels Mediation getroffene Vereinbarungen detaillierter und umfassender.

  1. Wie zufrieden sind Medianden

 – Zufriedenheitsrate schwankt zwischen 60-90%
 hinsichtlich Verfahren und Ergebnis

 – 2/3 Mediandenzufriedenheit bei
 Beziehungsgewalt

 – 40-60% Zufriedenheit auch ohne Vereinbarung

Im Vergleich: bei gerichtlichen Verfahren 40-50%

1.3    Wie haltbar sind erarbeitete Vereinbarungen?

– Zeitraum über 2 Jahre nach Mediation und länger; durchgängig höher als bei Gericht
– Mediationsprozess als gerechter beurteilt

– seltener nachfolgende Meinungsverschiedenheiten
– häufigeres Einhalten von Vereinbarungen

wichtiger Indikator: Gerichte werden nach Mediation deutlich seltener in Anspruch genommen als bei Gerichtsverfahren

1.4    Einfluss auf die Beziehung der Medianden

positive Veränderungen wie:

– Paare gehen nach Mediation anders mit Konflikte um
– Wiederanrufung von Gerichten deutlich niedriger
– in 60-76% der Fälle tritt eine Verbesserung der Beziehung ein

Ergebnis:
Beziehung hat sich nur minimal verbessert;

Umgang mit Konflikten hat sich deutlich verbessert, z.B: destruktive Konfliktstile wurden deutlich abgebaut      

1.5    Auswirkungen auf die Kinder

Grundlegend besteht ethnisches Problem für Forscher, Kinder in Forschungsprozess einzubeziehen, daher bis dato keine empirischen Untersuchungen bekannt.

Aus Sicht der Eltern stimmen 80% der Frage zu, dass Ergebnisse der Mediation gut für ihre Kinder sind.

Es ist davon auszugehen, dass von Kindern die Mediation anders bewertet wird als von den Eltern.

Resümee: Wenn ein wichtiges Ziel das Wohl der Kinder betrifft, wäre es konsequent, die Kinder in einem angemessen Zeitumfang an der Mediation zu beteiligen.

2. Beziehungsgewalt und Mediation

2.1    Verbreitungsgrad; Relevanz für Familienmediation

– bei einem signifikanten Anteil der Familienmediationsfälle besteht Gewalthintergrund

– bei Trennungs/Scheidungssituationen steigt die Häufigkeit und Intensität von
  Gewalthandlungen statistisch deutlich an

– die Qualitätssicherung sowie Einsatz- und Leistungsfähigkeit des
  Mediationsverfahren in Fällen mit Gewalthintergrund erfordern die Auseinandersetzung
  mit dem Phänomen Beziehungsgewalt

2.2    Muster und Verläufe von Beziehungsgewalt

– einmalige Ereignisse oder langjähriges Dominazmuster

– bei länger andauernder Gewaltbeziehung:

  zyklischer Verlauf mit typischen Phasen wie Spannungsaufbau-Gewaltausbruch – 
  Reue/Versöhnung

Mediationskontext: Auftreten von Beziehungsgewalt zum Zeitpunkt einer Mediation ebenso vielfältig wie im „normalen“ Leben

2.3    Vorteile von Mediation möglich bei

– rechtsgebietsübergreifende Konfliktbearbeitung


– individuelle Situations- und Selbstbeschreibung

– Selbstreflexion, Interessenklärung, Ressourcen heben

– Aufarbeitung von Gewaltvorfällen

– Erarbeitung/Entwicklung von Veränderungen

2.4    Risiken in Fällen mit Gewalthintergrund

– Verborgenbleiben des Gewalthintergrundes
 (zB: historische Legitimierung von Beziehungsgewalt)   

– eventuelle Gefährdung der Gewaltbetroffen/Mediatoren

 – die mangelnde Selbstbestimmungsfähigkeit

– die mögliche Ausnutzung des Mediationsverfahrens durch nicht authentisch
  kooperationswillige Gewaltausübende

2.5    Einsatzfähigkeit in Fällen mit Gewalthintergrund

2.5.1   Adjuvante Mediation

– Ziel: Unterstützung familiengerichtlicher Verfahren

 – Vorteile: Zugangsschwelle für Mediation deutlich gesenkt

                   Schaffung förderlicher Rahmenbedingungen

– Nachteile: sehr spätes Stadium der Konfliktdynamik
                   Orientierung an Gerichtsverfahren
                   ( Potential der Mediation eingeschränkt )

2.5.2   Substitutive Mediation

– Ziel: eine gerichtliche Auseinandersetzung zu ersetzen

 – Vorteile: Vermeidung weiterer Eskalationen durch

                   präventiv frühzeitige Absprachen

                   Zunahme Gesprächs- und Einigungsbereitschaft

Dilemma der substitutiven Mediation:

Keine ausreichend etablierten institutionellen Strukturen

2.6    Anwendung in Fällen mit Gewalthintergrund

Generelle Verfahrensgestaltung

– Erhöhung der Sicherheit der Gewaltbetroffenen
 – Ausgleich Machtverhältnis (syst. Sicherheitsplanung)

– Einbindung Rechtsanwälte, Unterstützungspersonen

– Einsatz von Einzelgesprächen-Rechtslage

– kritische Reflexion der Geschlechterrollenbilder

– subjektive Perspektiven und emotional Dissonanzen

– strukturierte Bearbeitung von Gewaltvorfällen

2.7    Keine Anwendung in Fällen mit Gewalthintergrund

  • In Fällen aktueller körperlicher Gewalt
  • In Fällen aktueller anderer Gewalt als körperliche
  • Bei lange bestehende Gewaltbeziehung
  • Bei nicht sofortiger Beendigung der Gewaltausübung
  • Gewalthandlungen, Reaktionen und Hilfsangebote

3.1    Definition von Gewalt

Gewalt=jede Verletzung der körperlichen Integrität einer Person durch eine andere, Formen psychischer Gewalt miteinbezogen

Gewalttätig=  bereits einmaliges Schlagen

Mediationskontext: Potentiell belastende und beeinträchtigende Gewaltformen können nur dann wahrgenommen werden, wenn vorliegende Verhaltensweisen grundsätzlich als Gewalt erkannt werden.

3.2    Formen von Gewalt

– Gewaltakte in strafrechtlicher Hinsicht
– Körperliche Gewaltakte, psychische und sexuelle Misshandlungen

– Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und der sozialen Kontakte

– Missbrauch ökonomischer Macht

3.3    Reaktionen auf Gewalt

3.3.1   bei körperlicher Gewalt:

 – jede 2. Frau fühlt sich hilflos (im Vergleich jeder 4. Mann)

– Frauen empfinden deutlich stärker Angst als Männer

Bei sexueller Gewalterfahrung:

– jede 2. Frau fühlt sich hilflos (im Vergleich jeder 5. Mann)

– Frauen fühlen sich stärker ausgeliefert, haben mehr Angst,

– sie reagieren tatkräftiger, wehren sich doppelt so häufig,
 werden doppelt so häufig wütend

3.3.2   bei handgreiflichen Auseinandersetzung

Primärer Versuch der Hälfte, der Situation zu entkommen und auf körperliche Gegenwehr zu verzichten.

Die andere Hälfte der Männer wehrten sich körperlich, Frauen wehrten sich körperlich weniger.

Jeder 5. Mann und jede 10. Frau schlugen kräftig zu

3.4    Inanspruchnahme von Hilfsangebote

– Medizinische Hilfe

– Polizei selbst eingeschaltet

– Polizei oder Jugendamt von anderen eingeschaltet

– Anzeige erstattet

– Beratungsstelle bzw. Therapeut/Therapeutin

 -Kriseneinrichtung
    Gewaltschutzzentrum
    Interventionsstelle
    Frauenhaus
    Krisenzentrum

3.5    Ergebnis der Inanspruchnahme von Hilfsangebote

Medizinische Hilfe und Polizei selbst eingeschaltet:
 bei körperlicher Gewalt jede 5. Frau, jeder 5. Mann
 bei sexueller Gewalterfahrung jede 10.Frau, jeder 20.Mann
 medizinische Hilfe

Beratungsstelle bzw. Therapeut/Therapeutin:
von jeder 5. Frau und jedem 10. Mann

Kriseneinrichtung: am seltensten aufgesucht

Resümee: Ernstnehmen der geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Betroffenheit sowie des individuellen Gewalterlebens einzelner Männer und der besonderen Gewaltbetroffenheit von Frauen

4. Selbstreflektion der Mediatoren in der Theorie

Haltungshürden:

Aufrechterhaltung der mediativen Haltung wie Neutralität, Allparteilichkeit,
dauernde Aufrechterhaltung von Akzeptanz und Empathie

Trennung von unterschiedlichen beruflichen und persönlichen Rollen

Eigene Prinzipien und Leistungsfähigkeit versus verfügbarer Alternativen

eigene Persönlichkeit, eigenes Konfliktverständnis, persönliches Erleben von Macht-Gewaltverhältnisse, eigenes Unsicherheits- und Risikomanagement, deutliches Machtungleich-gewicht = Allparteilichkeit,

Übertragung starker Emotionen der Medianden

5. Selbstreflektion der Mediatoren in Praxis

Weiterentwicklung unter anderem zu Dialog und Konfliktfähigkeit sowie

Zufriedenheit und Unzufriedenheit mit eigenem Verhalten

Prinzipien des eigenen Handelns

Zusammenfassung

Familienmediation ist wirkungsvoll

Kritische Reflektion der Mediatoren und Überprüfung des eigenen Vorverständnisses von Beziehungsgewalt

Höchste Vorsicht und Zurückhaltung bei Vorliegen einer Gewaltbeziehung

Anwesenheit einer Unterstützungsperson aus persönlichem Umfeld

Co-Mediation, Frau/Mann

Oberste Priorität für Schutz und Sicherheit des Opfer

Literaturhinweise:

R.Bastine: Praxis der Familienmediation in der Beratung. Frankfurt am Main, 2006
u.a.